01 Juni 2012

Bildgeschichte



Vorweg: Bei der folgenden Bildanalyse verwende ich auch Gedanken, die D. Howell in seinem "barefoot book" antriggert. Bitte seid nicht böse, wenn ich im Folgenden nun nicht mehr aufdrösel, was ich von Howell geklaut habe, wo er mich lediglich inspiriert hat und wo ich's ohnehin länger und besser weiß als er, ok? Lest einfach sein Buch. Es lohnt sich.

Bei wiki commons (wo sonst?) fand ich unzufällig dieses Bild, das ursprünglich aus National Geographic, März 1922, stammt.


Die Bildunterschrift lautet "Padaung Cold Weather Costume". Dazu muss man wissen, dass die normale Kleidung dieser im heutigen Myanmar lebenden  Frauen nur in einem leichten Kilt und kiloweise Metallschmuck bestand. Bemerkenswerterweise schützen sich die hier abgebildeten Frauen vor der Kälte durch zusätzliche Stoffbahnen, lassen aber die Füsse frei. Eine Erklärung dafür findet sich hier:

Your hands, your feet, and your head are the areas of the body most involved in the control of body temperature. In an effort to maintain warmth, your body automatically reduces the flow of blood into your extremities, causing them to feel cold. (...) and there is an old adage among campers and mountaineers that "when your feet are cold, put on a hat."  (aus: Ask the doctor; Dr. Alan Berrick; 2012)

Kurzübersetzung: Über Hände, Füße und Kopf wird die Körpertemperatur reguliert. Bei gefühltem Wärmeverlust reduziert unser Körper einfach die Blutzufuhr in die Extremitäten, was dort ein Gefühl der Kälte erzeugt, was wiederum zu der Alltagsweisheit führt: "Hast Du kalte Füße, setz' einen Hut auf."

Die Mädels auf dem Bild haben ihre Körpertemperatur durch wärmende Klamotten geregelt. Das Problem kalter Füße tritt folglich nicht auf, jedenfalls nicht so sehr, dass die Damen sich auch noch die Füße umwickeln müssten.

Wir Nordmitteleuropäer kennen einen ähnlichen Effekt von winterlichen Schneeballschlachten, bei denen wir als Kinder, warm bekleidet, stundenlang barhändig im Schnee wühlen konnten, ohne zu frieren (im Gegenteil), aber schrieen, wenn irgendeine Dummbratze uns Schnee in den Nacken stopfte. Die Hände können die Temperatur regeln, Nacken und Rücken, wo die eiskalte Suppe dann nämlich hinlief, können es nicht. Letzteres empfinden wir daher als voll fies.

So weit, so gut. Nun strengen wir mal unsere Phantasie an und imaginieren zunächst eine Gesellschaft, die überwiegend in Räumen lebt, deren Temperatur stets auf einem Niveau gehalten wird, das den Insassen einen dauerhaft bewegungsarmen Aufenthalt ohne Wärmeverlust erlaubt. Nehmen wir nun zweitens an, ein Insasse begönne, sich zu bewegen, z.B. in den Räumlichkeiten umherzugehen. Der Kreislauf führe hoch, zusätzliche Wärme würde im Körper freigesetzt und müsste - wie beschrieben - über Kopfhaut, Hände und Füße als Temperaturregulatoren abgeführt werden.

Nehmen wir nun drittens an, in dieser Phantasie-Gesellschaft gäbe es eine strikte gesellschaftliche Regel, die es geböte, die Füße dauerhaft in feste, geschlossene Schuhe einzupacken. Folge: Programmierter Hitzestau. Die Mikroorganismen, die unsere gesamte Körperoberfläche zu Hundertausend je Quadratzentimeter besiedeln, freut's. So etwas kann eine Zeit lang, aber niemals auf Dauer ohne Gesundheitsschäden funktionieren.

Und damit sind wir bei einem zweiten Aspekt des obigen Bildes, die scheinbare Halsverlängerung durch die Metallringe, richtiger: Metallspiralen. Wer sich über diese auch heute noch gepflegte Tradition - und die damit verbundenen, zahlreichen Irrtümer - genauer informieren will, kann das gerne tun. Hier nur so viel: Gesund isses nicht!

 (via wiki commons)

Nichtsdestotrotz gibt es in der Padaung-Gesellschaft immer noch einen extrem starken normativen Druck (auf die Frauen), diese Metallspiralen zu tragen und im Laufe des Lebens ständig zu verlängern. Es ist Schwachsinn, es ist gesundheitsschädlich, und es ist eine Frage der gesellschaftlichen Ehre und Anerkennung. Und alle wissen, dass es Schwachsinn ist, und alle machen mit.

Woran erinnert uns das?
...
Ja, okay, auch an die Finanzkrise und auch ans Essen bei Mc Donald's, aber himmelnochmal, hier geht's doch um die Frage Barfußlaufen oder Schuhanziehen, oder?

Worauf ich hinaus will, ist: Schuhe! In unserer Gesellschaft wird das Schuhetragen oder -nichttragen genau so wirksam sanktioniert, wie bei den Padaung das Metallspiralentragen oder -nichttragen!

Und worauf ich eigentlich hinaus will ist: Es gibt soziale Normen, die sind einfach nur arbiträr, d.h. willkürlich, austauschbar, beliebig. Oh ja, wenn man die Padaung nach den Metallspiralen oder die Mitteleuropäer nach den Schuhen früge, dann gäb's natürlich mannigfache Antworten, die sich auf die jeweilige Sozialgeschichte bezögen, auf sicherheitstechnische Gründe, auf Traditionen als Garant gesellschaftlicher Kohäsion, bla, bla, bla. Alle diese Gründe lassen sich ganz zum Schluss auf eine Formel reduzieren: Das macht man so!

Umkehrschluss: Es nicht zu tun, tut man nicht!
Beweis: Alle tun's!
Folgerung: Wer's nicht tut, ist doof.


Gegenfrage: Wie doof muss man sein, dauerhaft etwas mitzumachen, was definitiv schädlich und unlustig ist?

Und was ich ganz eigentlich sagen wollte: Entschuldigt bitte, dass ich das als doof erkannte Spiel nicht mehr mitspiele.





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